4

Der Polarsturm hatte das Landesinnere von Alaska ganze zwei Tage lang gebeutelt, die Kleinstadt Harmony und ihre weit verstreuten Nachbarorte entlang des Flusses waren in neunzig Zentimetern Neuschnee versunken, und die Tagestemperaturen in der ganzen Region lagen bei minus sechsundzwanzig Grad. Bei diesem Wetter blieben den Leuten normalerweise zwei Möglichkeiten: Entweder sie bunkerten sich zu Hause ein, oder sie kamen in Scharen zu Pete's, der einzigen Kneipe der Stadt.

Als heute die dritte und letzte Stunde Tageslicht zur mittäglichen Dämmerung verblasste, drängten sich trotz des heulenden Winterwindes und der Eiseskälte fast alle der dreiundneunzig Einwohner von Harmony in der protestantischen Holzkirche zu einem außerplanmäßigen Bürgertreffen zusammen. Alex saß neben Jenna in der zweiten Bankreihe und versuchte so sehr wie alle anderen, sich einen Reim auf das Gemetzel in der Wildnis zu machen. Die sechs brutal zugerichteten Opfer hatte man in einen provisorischen Kühlraum auf dem Flugplatz von Harmony gebracht, und die ganze Stadt vibrierte vor nervöser Unruhe.

Alex wusste, dass Zach Tucker versucht hatte, den Angriff auf die Familie Toms nicht an die große Glocke zu hängen, aber obwohl das Hinterland so riesig war, verbreiteten sich Neuigkeiten in Windeseile - und ganz besonders schnell in dieser abgelegenen Gegend am Ufer des Koyukuk. Schlechte Neuigkeiten, besonders wenn es um mehrfache ungeklärte brutale Gewaltverbrechen mit Todesfolge ging, schienen die Leute quasi in Lichtgeschwindigkeit zu erreichen.

In den achtundvierzig Stunden, seit Alex die Morde entdeckt und Zach beschlossen hatte, die Leichen vom Tatort nach Harmony zu fliegen, bis das Wetter sich so weit beruhigt hatte, dass die Staatspolizei aus Fairbanks zu ihnen durchkam und die Ermittlungen übernehmen konnte, waren der Schock und die Bestürzung in der Stadt in Argwohn und Hysterie umgeschlagen. Und die nahm gefährlich zu. Länger als achtundvierzig Stunden konnten es die Stadtbewohner nicht aushalten, ohne Erklärungen zu fordern, wer - oder was - den alten Toms und seine Familie so brutal abgeschlachtet hatte.

„Ich verstehe das einfach nicht“, sagte Millie Dunbar von ihrem Platz in der Bank hinter Alex. Der alten Frau zitterte die Stimme, nicht so sehr wegen ihrer siebenundachtzig Jahre, sondern vor Kummer und Sorge. „Wer würde Wilbur Toms und seiner Familie so etwas antun? Das waren so nette, anständige Leute. Damals, als mein Vater sich hier angesiedelt hat, hat er viele Jahre lang flussaufwärts mit Wilburs Großvater gehandelt. Er hatte über die Familie Toms nie ein schlechtes Wort gesagt. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wer etwas so Böses getan haben kann.“

Einer der Männer im hinteren Teil der Kirche meldete sich zu Wort. „Wenn ihr mich fragt, der junge Teddy war mir nie ganz geheuer. Der war einfach zu verdammt still. Hab ihn in der letzten Zeit öfters in der Stadt rumlungern sehen, aber nicht mal gegrüßt hat er, wenn man ihn angesprochen hat. Hielt sich wohl für was Besseres. Da fragt man sich doch, was der Bursche so getrieben hat und ob er vielleicht was zu verbergen hatte.“

„Also bitte“, sagte Alex. Sie fühlte sich verpflichtet, Teddy in Schutz zu nehmen, da er es nicht mehr selbst tun konnte. Sie drehte sich auf ihrer Kirchenbank um und warf einen missbilligenden Blick hinter sich, wo sich auf Big Dave Grants haltlose Anklage hin Dutzende von Gesichtern vor Argwohn verhärtet hatten. „Teddy war einfach schüchtern gegenüber Leuten, die er nicht gut kannte, das ist alles. Er hat nie viel geredet, weil er Stotterer war und deswegen ständig gehänselt wurde. Und anzudeuten, dass er irgendetwas mit dem Mord an seiner Familie zu tun haben könnte, wo er doch neben ihnen auf einer kalten Pritsche liegt, ist einfach widerlich und herzlos. Wenn ihr gesehen hättet, in welchem Zustand sie waren ...“

Jennas Hand senkte sich sanft auf Alex' Handgelenk, aber die Warnung war unnötig. Alex hatte nicht vor, den Gedanken weiter auszuführen. Schlimm genug, dass ihre grauenvolle Entdeckung sich immer wieder vor ihrem inneren Auge abspulte, seit sie auf den alten Toms, Teddy und den Rest ihrer Familie gestoßen war. Sie würde nicht dasitzen und den Stadtbewohnern ausführen, wie brutal sie ermordet worden waren. Mit welcher Wildheit Fleisch von den Knochen gerissen, Kehlen aufgeschlitzt worden waren, als wäre ein höllisches Tier aus der kalten Nacht gekommen, um sich an den Lebenden zu nähren.

Nein, kein Tier.

Ein Wesen aus einem Albtraum.

Ein Monster.

Alex schloss die Augen vor der Vision von Blut und Tod, die aus den dunkelsten Ecken ihrer Erinnerung aufzusteigen begann. Sie wollte nicht daran denken, nie wieder. Sie hatte Jahre gebraucht und Tausende von Meilen hinter sich gelassen, aber es war ihr gelungen, diesem Schrecken zu entkommen. Sie hatte ihn überwunden, auch wenn er ihr so entsetzlich viel genommen hatte.

„Ist es wahr, dass keine Mordwaffe gefunden wurde?“, rief jemand aus der Mitte der Versammlung. „Wenn sie nicht erschossen oder erstochen wurden, wie wurden sie dann ermordet? Ich hab gehört, dass es da draußen in der Wildnis das reinste Blutbad war.“

Oben auf der Kanzel hob Zach eine Hand, um den folgenden Ansturm ähnlich neugieriger Fragen aus der Menge abzublocken. „Bis die Einheit der Staatspolizei aus Fairbanks da ist, kann ich euch nur sagen, dass wir das als Mord in mehreren Fällen behandeln. Da ich einer der ermittelnden Beamten bin, ist es mir derzeit weder möglich, über die Details zu sprechen, noch halte ich Spekulationen für angebracht.“

„Aber was ist mit den Wunden, Zach?“ Dieses Mal war es Lanny Ham, der das Wort ergriff, und in seiner dünnen Stimme schwang etwas mehr als seine übliche nervöse Energie. „Ich habe gehört, die Leichen sehen aus, als wären sie von Tieren angefallen worden. Großen Tieren. Ist das wahr?“

„Was denkt Alex, schließlich hat sie die Leichen doch gefunden?“, fragte jemand anders. „Glaubst du, dass es Tiere waren?“

„Roger Bemis sagte, er hätte gestern bei seinem Grundstück im Westen der Stadt Wölfe gesehen“, rief Fran Little john dazwischen, die die kleine Klinik der Stadt leitete. Normalerweise war sie eine vernünftige Frau, aber jetzt klang sie ernsthaft besorgt. „Der Winter ist jetzt schon hart, und das ist erst der Anfang. Was, wenn ein hungriges Wolfsrudel die Ansiedlung der Toms angegriffen hat?“

„Verdammt guter Punkt. Und wenn es Wölfe waren - wer sagt uns, dass sie nicht bis in die Stadt reinkommen, jetzt, wo sie auf den Geschmack gekommen sind, Menschen zu jagen?“, kam ein weiterer paranoider Vorschlag.

„Jetzt macht mal halblang, Leute“, sagte Zach, doch sein Versuch, die anderen zur Ruhe zu rufen, ging in hysterischem Stimmengewirr unter.

„Wisst ihr, ich hab erst letzte Woche direkt vor der Abenddämmerung einen Wolf gesehen. Großer schwarzer Rüde, hat am Müllcontainer hinter Petes rumgeschnüffelt. Hab mir noch nichts dabei gedacht, aber jetzt...“

„Und vergesst nicht, dass erst vor ein paar Monaten ein paar Schlittenhunde drüben in Ruby von Wölfen gerissen wurden. Von denen blieben bloß ein paar Gedärme und die Lederhalsbänder übrig, stand alles in der Zeitung ...“

„Vielleicht wäre es das Beste, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen“, sagte Big Dave von seinem Posten am Ende des Raumes. „Statt dass wir hier rumsitzen und darauf warten, dass die Staties ihren Arsch hochkriegen und zu uns rauskommen, sollten wir vielleicht einen Jagdtrupp auf die Beine stellen.

Für eine Wolfsjagd.“

„Es waren keine Wölfe“, murmelte Alex, und vor ihrem inneren Auge blitzte unwillkürlich der Anblick der blutigen Fußspur im Schnee auf, die sie gesehen hatte. Die hatte kein Wolf hinterlassen, das war überhaupt kein Tier gewesen, da war sie sich sicher. Aber eine leise Stimme in ihr flüsterte, dass es auch kein Mensch gewesen war.

Aber ... was dann?

Sie schüttelte den Kopf, weigerte sich, in Gedanken eine Antwort zuzulassen, von der sie hoffte - nein, betete,  dass sie nicht wahr sein konnte.

„Es waren keine Wölfe“, sagte sie wieder und hob die Stimme über die lärmende Panik, die sich inzwischen epidemisch um sie ausbreitete. Sie stand auf und drehte sich zu der rachgierigen Versammlung um. „So tötet kein Wolf.

Kein einzelner, und nicht einmal das kühnste Rudel würde so etwas tun.“

„Miss Maguire hat recht“, sagte Sidney Charles, einer der Stammesältesten der Inuitbevölkerung von Harmony und langjähriger Bürgermeister der Stadt, obwohl er das Amt in den letzten Jahren nur nominell innehatte. Er nickte Alex von seinem Platz in der ersten Bankreihe zu. Sein dunkler Pferdeschwanz war schon von Grau durchzogen, sein gebräuntes Gesicht hatte Lachfalten an Augen und Mundwinkeln, er war ein herzensguter, heiterer Mann. Doch heute machte er ein düsteres Gesicht. Wie sehr die Morde ihn mitnahmen, konnte man an seinen hängenden Schultern sehen, die sonst so stolz gereckt waren. „Wölfe haben Respekt vor den Menschen, so wie wir sie respektieren sollten. Ich habe lange gelebt, lang genug, um euch versprechen zu können, dass sie das nicht getan haben. Und auch wenn ich noch mal hundert Jahre lebe, glaube ich nicht, dass sie es waren.“

„Bei allem Respekt, Sid, aber ich würde es lieber nicht drauf ankommen lassen“, sagte Big Dave und erntete eifrige Zustimmung bei einigen anderen Männern, die bei ihm standen. „Soweit ich weiß, haben wir hier jeden Winter Ärger mit einzelnen Wölfen. Oder stimmt's etwa nicht, Officer Tucker?“

„Schon“, musste Zach zugeben. „In Einzelfällen. Aber ...“

Big Dave fuhr fort: „Leute, wenn wir hier Wölfe haben, die unsere Siedlungen bedrohen, dann ist es unser Recht, uns zu verteidigen. Hölle noch mal, das ist unsere gottverdammte Pflicht. Ich will weiß Gott nicht warten, bis irgend so ein ausgehungertes Rudel beschließt, uns wieder anzugreifen.“

„Ich sehe das auch so wie Big Dave“, sagte Lanny Ham und schoss wie eine Rakete von seinem Platz auf. Er rang die Hände, sein nervöser Blick zuckte durch den Raum. „Ich meine, tun wir lieber was, bevor wir so was hier mitten in Harmony haben!“

„Hört mir hier überhaupt einer zu?“, rief Alex wütend. „Ich sage euch doch, es sind keine Wölfe gewesen, die den alten Toms und seine Familie angegriffen haben. Was sie angegriffen hat, war schrecklich, entsetzlich ... aber ein Wolf war es nicht. Was ich da draußen gesehen habe, kann überhaupt kein Tier getan haben. Es war etwas anderes ...“

Alex' Stimme blieb in ihrer Kehle stecken, als ihr Blick zum hinteren Teil der Kirche wanderte und in ein Paar silberne Augen sah, die so durchdringend waren, dass ihr der Atem stockte. Sie kannte den schwarzhaarigen Mann nicht, der in den Schatten bei der Tür stand. Er war nicht aus Harmony und auch aus keinem der weit verstreuten Nachbarorte. Alex war sicher, dass sie diese schmalen, kantigen Wangen, das eckige Kinn und diese eindringlichen Augen noch nie zuvor im ganzen Hinterland von Alaska gesehen hatte. Das war nicht die Art von Gesicht, das eine Frau je vergaß.

Der Fremde sagte nichts, blinzelte nicht einmal mit seinen tintenschwarzen Wimpern, als sie so plötzlich verstummte und den Faden verlor. Er starrte sie einfach über die Köpfe der Leute hinweg an, als wäre sie die Einzige, die er wahrnahm, als wären sie beide die einzigen Personen im Raum.

„Was denkst du dann, was es war, Liebes?“ Millie Dunbars dünne Stimme riss Alex schlagartig aus dem entnervenden Bann, den der Blick des Fremden über sie geworfen hatte. Sie schluckte, ihre Kehle war wie ausgedörrt. Dann drehte sie sich zu der reizenden alten Dame und all den anderen um, die nun schweigend darauf warteten, dass sie ihnen sagte, was sie draußen bei der Ansiedlung der Toms gesehen zu haben meinte.

„Ich ... ich weiß nicht genau“, zögerte sie und wünschte sich, erst gar nicht den Mund aufgemacht zu haben. Sie spürte den heißen Blick des Fremden auf sich, und plötzlich wollte sie nicht mehr aussprechen, was sie draußen in der Wildnis gedacht hatte und in all den qualvollen Stunden, die seither vergangen waren.

 “Was hast du gesehen, Alexandra?“, drängte Millie, ihre Miene war eine herzzerreißende Mischung aus Hoffnung und Grauen. „Wie kannst du dir so sicher sein, dass es keine Tiere waren, die diese guten Leute umgebracht haben?“

Alex schüttelte schwach den Kopf. Verdammt, da hatte sie sich einen schönen Schlamassel eingebrockt. Jetzt, wo fast hundert Augenpaare auf ihr ruhten und eine Erklärung erwarteten, konnte sie keinen Rückzieher mehr machen.

Nicht, ohne sich zur kompletten Idiotin zu machen und ein unschuldiges Wolfsrudel der Gegend zu verdammen, dem übereifrigen Big Dave und seinen Jungs zum Opfer zu fallen. Offenbar warteten die nur noch auf die Erlaubnis, auszuschwärmen und grundlos Wölfe abzuknallen. Scheiße.

Blieb ihr etwas anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen?

„Ich habe ... eine Spur gesehen“, gab sie ruhig zu.

„Eine Spur?“ Dieses Mal war es Zach, der redete, seine hellbraunen Augenbrauen tief gesenkt, als er sie aus der Kanzel über den Köpfen der Gemeinde kritisch musterte. „Von einer Spur hast du mir nichts gesagt. Wo hast du sie gesehen, Alex? Was für eine Spur war es?“

„Es waren Fußspuren ... im Schnee.“

Zachs Stirnrunzeln vertiefte sich. „Du meinst Abdrücke von Stiefelsohlen?“

Einen langen Augenblick stand Alex stumm da, unsicher, wie sie formulieren sollte, was sie als Nächstes aussprechen würde. Niemand sagte etwas in der Stille, die sich jetzt ausdehnte. Sie spürte die Blicke der Versammlung schwer auf sich lasten. Die ganze Erwartung der Stadt war völlig auf die groß gewachsene, knabenhafte Blondine gerichtet, die fast ihr ganzes Leben in Harmony verbracht hatte, aber immer noch als Außenseiterin galt, weil sie mit ihrem Vater aus den feuchten Sümpfen Floridas gekommen war.

Es war die Erinnerung an die flirrende Hitze dieser Feuchtgebiete, die jetzt Alex' Sinne erfüllte. Sie konnte Salzwasser auf der Zunge schmecken, roch den süßen Duft der Lilien und moosbewachsenen Zypressen in der Luft. Sie hörte das monotone Lied der Zikaden und das tiefe Quaken der Ochsenfrösche, die in der Dunkelheit ihr Ständchen hielten. Genau wie damals, als sie ihrer Mutter zugesehen hatte, wie sie ihren kleinen Bruder auf der Veranda ihres kleinen Hauses in den Schlaf wiegte und ihnen mit ihrer leisen, sanften Stimme, die Alex so vermisste, vorlas. Sie konnte den goldenen Oktobermond sehen, der langsam in das glitzernde Sternenmeer hoch über der Erde aufstieg.

Und sogar jetzt noch konnte sie den Angstpfeil spüren, der durch ihr Herz geschossen war, als die Nacht zu einer Orgie der Gewalt geworden war. Als die Monster gekommen waren, um zu fressen.

Es war alles noch da.

Immer noch so erschütternd real.

„Alex.“

Zachs Stimme schreckte sie auf und riss sie zurück in die Gegenwart, nach Harmony in Alaska, und wieder packte sie Entsetzen beim Gedanken, dass der Schrecken, vor dem sie damals aus Florida geflohen war, sie wiedergefunden haben könnte.

„Also wird's bald, Alex?“ Zach klang kurz angebunden vor Ungeduld. „Ich muss wissen, was du da draußen gesehen hast. Und zwar alles.“

„Ich habe einen Fußabdruck gesehen“, erklärte sie, so klar sie nur konnte.

„Nicht von einem Stiefel. Von einem nackten Fuß. Er war riesig und sehr menschenartig, aber eben ... nicht ganz ...“

„Ach um Himmels willen.“ Big Dave schnaubte vor Lachen. „Nicht die Wölfe haben sie umgebracht, sondern der Yeti! Jetzt schlägt's aber dreizehn.“

„Was soll das, Alex? Soll das etwa ein Witz sein?“

„Nein“, beharrte sie, drehte sich fort von Zachs ungläubigem Blick und wandte sich dem Rest der Stadtbewohner zu. Alle starrten sie an, als warteten sie nur darauf, dass sie in Gelächter ausbrach.

Alle außer dem schwarzhaarigen Fremden im hinteren Teil der Kirche.

Seine silbernen Augen bohrten sich in sie wie Speere aus Eis, nur dass sie, je länger sie ihm in die Augen sah, nicht das Gefühl von Kälte hatte, sondern von weiß glühender Hitze. Und da war kein Spott in seiner Miene. Er hörte ihr mit einer Intensität zu, die sie bis in ihr Innerstes erschütterte.

Er  glaubte ihr, während jede andere Person im Raum das, was sie sagte, verwirrt und mehr oder weniger höflich abtat.

„Es ist überhaupt kein Witz“, sagte Alex den Bewohnern von Harmony. „Mir ist noch nie etwas ernster gewesen, ich schwörs euch ...“

„Das reicht jetzt“, verkündete Big Dave und stapfte auf die Tür zu. Einige andere Männer folgten ihm unter Gelächter nach draußen.

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber ihr müsst mir zuhören“, sagte Alex verzweifelt. Man musste ihr glauben, jetzt, wo sie ihnen endlich die Wahrheit gesagt hatte.

Oder zumindest einen Teil davon. Wenn sie ihr die Spur im Schnee schon nicht abnahmen, würden sie ihr nie glauben, wer den alten Toms und seine Familie wirklich auf dem Gewissen hatte - etwas so Unglaubliches, so Entsetzliches würden sie nie akzeptieren können.

Sogar Jenna starrte sie mit offenem Mund an, als wäre sie völlig übergeschnappt. „Niemand kann in dieser Kälte ohne ordentliche Kleider überleben, Alex. Du kannst einfach keinen nackten Fußabdruck da draußen gesehen haben. Das ist dir doch klar, oder?“

„Ich weiß, was ich gesehen habe.“

Um sie herum begann die Versammlung, sich aufzulösen. Alex reckte den Hals, um den Fremden zu finden, aber sie konnte ihn nicht mehr sehen. Er war verschwunden. Sie wusste nicht, warum sie bei diesem Gedanken so enttäuscht war. Genauso wenig verstand sie, warum sie sich so getrieben fühlte, ihn zu suchen. Sie brannte vor Ungeduld und konnte nicht erwarten, fortzukommen.

 “Hey, ist ja gut.“ Jenna stand auf, lächelte Alex mitfühlend, wenn auch etwas verwirrt an und zog sie in eine enge Umarmung. „Du hast eine Menge durchgemacht. Die letzten paar Tage waren hart für uns alle, aber für dich ganz besonders.“

Alex entzog sich ihr und schüttelte vage den Kopf. „Mir geht's gut.“

Die Kirchentür öffnete und schloss sich, als eine weitere Gruppe von Leuten in die kalte Nacht hinausging. War er  auch da draußen? Sie musste es wissen.

„Hast du den Typen vorhin gesehen, der ganz hinten stand?“, fragte sie Jenna.

„Schwarzes Haar, hellgraue Augen. Er stand alleine bei der Tür.“

Jenna schüttelte den Kopf. „Wen meinst du? Ich habe niemanden bemerkt ...“

„Ist ja auch egal. Hör mal, ich glaube, ich lasse unseren Kneipenabend bei Petes heute aus.“

„Gute Idee“, stimmte Jenna zu, als Zach die Treppen der Kanzel herunterstieg und zu ihnen herüberkam. „Geh heim und schlaf dich aus, okay? Du machst dir ständig Sorgen um mich, aber jetzt bist definitiv du diejenige, die etwas auf sich achten muss. Außerdem ist es schon ewig her, dass mein alter Sack von Bruder mit mir einen Burger essen und ein Bier trinken war, nur wir beide. Er geht mir die letzte Zeit aus dem Weg, ich frage mich schon, ob er vielleicht eine heimliche Freundin hat.“

„Keine Freundin“, sagte Zach. „Keine Zeit für so was, ich bin mit meinem Job verheiratet. Alles okay mit dir, Alex? Das war eben echt komisch und sah dir gar nicht ähnlich. Wenn du darüber reden willst, was passiert ist, mit mir oder sogar mit jemandem vom Fach ...“

„Alles bestens“, beharrte sie. Jetzt wurde sie ärgerlich und war dankbar für die Wut, die ihre beunruhigende Vergangenheit wieder in die hinteren Ecken ihres Bewusstseins zurückverbannte, wo sie hingehörte. „Hört mal, vergesst einfach, was ich heute Abend gesagt habe. Ich hab das nicht ernst gemeint. Ich wollte mich nur mit Big Dave anlegen.“

„Na, der ist ein Arsch und hat's verdient“, sagte Jenna und wirkte extrem erleichtert, dass es offenbar doch nicht nötig war, die Weißkittel mit den Zwangsjacken zu rufen.

Alex lächelte mit einer Fröhlichkeit, die sie nicht empfand. „Dann geh ich mal.

Viel Spaß bei Petes, ihr zwei.“

Sie wartete den Abschied der beiden nicht ab und rannte zur Tür, wurde aber von drei alten Damen aufgehalten, die miteinander plauderten und sich in Zeitlupe bewegten. Alex' Puls raste, als sie endlich draußen war und ihre erste Lunge voll kalter Nachtluft nahm. Sie stand unter dem schneebeladenen Dach-vorsprung der Holzkirche und sah sich in alle Richtungen nach dem auffallenden Gesicht um, das sich vom ersten Augenblick an unauslöschlich in ihre Erinnerung eingebrannt hatte.

Er war nicht da.

Wer immer er war, was auch immer ihn nach Harmony geführt hatte, das doch durch das schlechte Wetter völlig von der Zivilisation abgeschnitten war - er war einfach in die eisige Dunkelheit hinausgegangen und hatte sich in Luft aufgelöst.

Lara Adrian- 07- Gezeichnete des Schicksals
titlepage.xhtml
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_000.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_001.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_002.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_003.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_004.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_005.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_006.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_007.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_008.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_009.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_010.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_011.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_012.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_013.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_014.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_015.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_016.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_017.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_018.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_019.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_020.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_021.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_022.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_023.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_024.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_025.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_026.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_027.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_028.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_029.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_030.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_031.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_032.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_033.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_034.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_035.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_036.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_037.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_038.htm
Midnight Breed 07 - Gezeichnete des Schicksals-ok2b_split_039.htm